LESEPROBE 2

Freiheit und Gleichheit bedingen sich gegenseitig

   „Im Namen der Gleichheit aller Menschen wurden einst überlieferte Pfründen beseitigt und althergebrachte Privilegien in Trümmer gelegt. Doch die revolutionäre Kraft des Gleichheitsgedankens überdauerte die Revolutionen nicht. Die Gleichheit wurde alsbald juristisch domestiziert.

   Das allgemeine Gleichheitsprinzip verkümmert weitgehend zum Willkürverbot. Es wird fast nur auf geringstmöglichem Gleichheitsniveau implementiert, nämlich so, dass gerade eben noch die Rede davon sein kann, dass man den geschriebenen Gleichheitssatz anwendet und nicht etwa nur irgendein ungeschriebenes Verfassungsgebot der Vermeidung gröbster Unsachlichkeit.

   Die instinktive Zurückhaltung der meisten Grundrechtler vor der grundrechtstechnischen Effektuierung der Gleichheit beruht darauf, dass sie um die Freiheit fürchten. ... Sobald aber die Zurückhaltung, durch welche man die Freiheit schützen will, ihr in Wahrheit schadet, wird die dogmatische Zurückhaltung im Ergebnis kontraproduktiv.

   Die Furcht vor der Gleichheit und die Angst vor der Gerechtigkeit, die aus der Sorge um die Freiheit hervorgehen, sind bedingt berechtigt. ... Im Übrigen aber gründet die Freiheit selbst in der Gleichheit: so wie die Befreiung des Sklaven im wesentlichen die Verwirklichung seiner menschenrechtlichen Gleichheit ist. Diese Art von Gleichheit, die das wahre Fundament der Freiheit ist, hatte bislang kaum eine Chance, ihre grundrechtliche Fruchtbarkeit und Kraft zugunsten der Freiheit zu beweisen.“

Prof. Dr. Dieter Suhr
Gleiche Freiheit - Allgemeine Grundlagen und Reziprozitätsdefizite der Geldwirtschaft
(in Zusammenarbeit mit Armin Trautmann), Augsburg 1988, S. 4.